Veröffentlichungen: Zeitalter

Wie Zeitalter besichtigt werden

Drei Bücher geben Auskunft über die Gedanken ihrer Zeit

Von Micha Hektor Haarkötter

Das 20. Jahrhundert ist ja, im Rückblick, ziemlich scheiße verlaufen. Nein, gerne wird man sich in ein paar hundert Jahren vermutlich nicht mehr an es erinnern. „Das schlimmste Jahrhundert, das es jemals gegeben hat“, nannte es der Oxforder Philosoph Isaiah Berlin. Wenn er da mal nicht untertrieben hat!

Dabei hatte alles so prima angegangen. Zwar ist das Zählen in Jahrhunderten nur eine gesellschaftliche Konvention, noch dazu eine, die für den größeren Teil der Menschheit von eher marginaler Bedeutung ist. Doch in jenem Jahr, das der Westen 1900 nennt, begann ein in jeder Hinsicht bemerkenswertes Zeitalter. Denn im und um das Jahr 1900 wurden die wesentlichen Entdeckungen gemacht, die alle Weltbilder auf den Kopf stellten und für die folgenden hundert Jahre das wissenschaftliche, philosophische und kulturelle Nachdenken bestimmten: Das Elektron, das Gen, das Quant und das Unbewußte.

Die Geschichte dieses Nachdenkens will Peter Watson in seinem voluminösen Buch „Das Lächeln der Medusa“ erzählen und somit der LeserIn in einer über tausendseitigen „tour de force“ mit erzählerischen Mitteln jene Geschichten nahe bringen, die vom maledeiten 20. Jahrhundert ruhigen Gewissens weitererzählt werden dürfen.

Ein Zeitalter wird besichtigt: Neben den großen Geistern und markanten Linien hat Peter Watson in seinem lässigen Plauderton immer auch einen Blick fürs Anekdotische, fürs amüsante Detail. Fleißig durchgearbeitet breitet Watson locker Stoff für das nächste Jahrzehnt von „Wer wird Millionär“ aus. Wer weiß schon, welches die einzige chemische Formel war, die jemals den Aufmacher der New York Times einnahm? Nein, es war nicht Einsteins e=mc2. Es war vielmehr C7H38O43, die chemische Formel für Kunstharz, die der Belgier Baekeland im gleichen Jahr entdeckt hatte und mit der zum ersten Mal ein Kunststoff produziert werden konnte, das Bakelit.

Der britische Autor läßt keinen Zweifel daran, daß die intellektuell fruchtbarste Kultur zu Beginn des 20. Jahrhunderts die deutsche (oder deutschsprachige) war und daß von Planck, Einstein und Heisenberg über Gödel, Ehrlich und Freud bis zu Mahler, Schönberg, den Manns und Brecht (die Liste ließe sich fast beliebig fortsetzen) das deutsche Geistesleben seine „ruhmreiche Epoche“ hatte. Ebenso wenig Zweifel läßt er aber daran, daß nach dem intellektuellen Kahlschlag von Nazizeit und Weltkrieg Deutschland zwar „seine Vorherrschaft auf dem kommerziellen und industriellen Sektor wieder herstellen“ konnte, es wissenschaftlich und kulturell aber bestenfalls noch die zweite Geige spielt. Vielleicht, analysiert Watson, liegt es daran, daß „Handel und Industrie weniger mit der Psychologie eines Volkes verknüpft sind als die Künste und die Wissenschaften“. Auf jeden Fall aber daran, daß insbesondere jüdische Deutsche die intellektuellen Glanzlichter setzten, von denen bekanntlich nicht mehr viele da sind. 104.098 deutsche und jüdische Flüchtlinge landeten alleine in den USA, darunter 7.622 Akademiker und 1.500 KünstlerInnen, weiß Watson. „Hitlers Geschenk an Amerika“ betitelte das der „American Mercury“. Auch so eine Quizfrage.

Das 20. Jahrhundert stand natürlich im Zeichen der Naturwissenschaften. Peter Watson versteht es, auf anschauliche Weise Licht in die schwarzen Löcher unserer Halbbildung zu bringen und von der Teilchenphysik bis zur Stringtheorie die bahnbrechenden wissenschaftlichen Entdeckungen Revue passieren zu lassen. Dabei entgeht ihm aber auch nicht die Dialektik der Aufklärung, wiewohl merkwürdigerweise gerade das so überschriebene Buch von Horkheimer und Adorno nirgendwo Erwähnung findet. Daß nicht alles Gold ist, was strahlt, zeigt beispielhaft die Geschichte der Erfindung der Atombombe, „der schreckliche Höhepunkt jenes größten intellektuellen Abenteuers“, bei dem die „schöne Wissenschaft“ ihre Unschuld endgültig verloren hat. „A Terrible Beauty“ lautet denn auch, nach einem Vers von Yeats, der englische Originaltitel: das Schreckliche und das Schöne, die im 20. Jahrhundert so dicht beieinander liegen. Warum die deutsche Übersetzung „Das Lächeln der Medusa“ heißen muß, erklärt einem wieder mal keiner.

Peter Watson, Jahrgang 43, war New York-Korrespondent der „Times“ und schrieb für den Observer. Das verrät der Klappentext. Er hat einen Kunstskandal aufgedeckt und ein paar Krimis verfaßt. Der Grund für seinen schweren Wälzer war, all die dicken Bücher endlich einmal zu lesen, von denen er handelt. Das verrät Watson selber. Umso bedauerlicher, daß uns die deutsche Ausgabe das Literaturverzeichnis vorenthält. Denn das führt zu dem dicken Klops, daß im Text zum Beispiel auf „Feyerabend (1975)“ referiert wird, ohne daß irgendwo gesagt würde, daß es sich um Paul Feyerabends viel diskutiertes Buch „Against Method“ (Skizzen einer anarchistischen Erkenntnistheorie) handelt. Da hätte der Verleger gerne die gleiche Sorgfalt an den Tag legen dürfen wie der Autor und die fleißige Übersetzerin Yvonne Badal.

Durch die löbliche Buchdruckerkunst wird „der lang verschlossene Brunn’ unaussprechlicher Weisheit, menschlicher und göttlicher Kunst der Allgemeinheit zugeführt“. So formuliert, etwas katachretisch, Hartmann Schedel in der nach ihm benannten Weltchronik von 1493. Auch Schedel besichtigt Zeitalter, aber nicht eines, sondern deren sieben. An der mittelalterlichen Lehre von den sieben Weltaltern orientiert sich nämlich die Chronik, die als das erste Geschichtswerk eines deutschen Gelehrten gilt. Die ersten fünf Weltalter folgen den biblischen Erzählungen von der Erschaffung der Welt bis zur Geburt Christi. Das sechste Weltalter erzählt die Geschichte von der Zeitenwende bis in Schedels Gegenwart. Das siebte Weltalter schließlich gibt, aus unserer heutigen Sicht für ein Geschichtswerk eher ungewöhnlich, einen Ausblick auf das Ende der Welt.

Doch so mittelalterlich, wie das klingt, ist das gar nicht. Tatsächlich bedienten sich Schedel und seine beiden Nürnberger Verleger, Schreyer und Kammermeister, der damals modernsten Technologie, dem eben erst erfundenen Buchdruck, um die damals modernste Ideologie, den Humanismus, an Mann und Frau zu bringen. Die Weltalterlehre dient zu nicht viel mehr denn als Folie, auf der Schedel lax sein Wissen verteilt, und der erheblich größere Umfang des Kapitels über das sechste Weltalter steht dafür, daß die nachbiblische und die Zeitgeschichte eine ganz neue Geltung erhalten.

Zu dem langanhaltenden Erfolg der Chronik, der uns letztlich auch die schönen Faksimile-Neuauflage beschert, trugen mit Sicherheit die 1.804 Holzschnitte aus der Werkstatt von Michael Wohlgemut und Wilhelm Pleydenwurff bei. Es sind diese Illustrationen, die das Buch zu einer Art multimedialem Spektakel machen und das so junge Buchdruckerhandwerk zu einer frühen Blüte führten. Insbesondere die Stadtansichten machen das Werk bis heute populär. Mit historischer Autentizität sollte man den Abbildungen zwar nicht kommen: Ein und derselbe Holzschnitt diente etwa als Ansicht von Mainz, Neapel, Bologna, Lyon und Herakleion auf Kreta. Aber es sind auch originäre Schnitte etwa von Nürnberg, von Bamberg, Genua, Köln, Rom oder Salzburg darunter, die zu den ältesten Abbildungen dieser Städte gehören und ein lebendiges Bild der Stadtkultur im 15. Jahrhundert vermitteln. Zusätzlichen Reiz erhalten die Schnitte dadurch, daß ein junger Lehrling der ausführenden Werkstatt Albrecht Dürer hieß und KunsthistorikerInnen spekulieren läßt, welchen Anteil der spätere Meister an dem Werk hatte.

Die Schedel’sche Weltchronik trägt eigentlich irrtümlich den Namen des Arztes Hartmann Schedel. In Wahrheit ist das voluminöse Werk eine Gemeinschaftsleistung der humanistisch gesinnten Bürger Nürnbergs und Schedel selbst der Kompilator oder Redakteur, der aus unterschiedlichen Quellen seinen Text zusammenträgt. 90% des Texts hat Schedel mehr oder weniger wörtlich übernommen und dennoch ein originelles Werk geschaffen. Er zitiert nicht etwa nur den biblischen Schöpfungsbericht, sondern diskutiert ausführlich griechische Weltentstehungstheorien. Diese Art der Textkonstitution könnte ein gelungenes Beispiel hergeben für die heutigen brandheißen Diskussionen über Urheberrecht und Autorenschaft in Zeiten von Hypertext und Internet. Gänzlich gibt Schedel seine Autoren-Autorität auf, wo er am Ende des sechsten Weltalters Seiten frei läßt, damit die LeserInnen die Geschichte in die Gegenwart weiterschreiben und so die Weltgeschichte zu ihrer ganz persönlichen machen können. Damit hat Schedel einen waschechten Hypertext geschaffen – und er brauchte noch nicht einmal einen Computer dazu. Es reichte ein alphabetisches Register, das dem Werk statt eines Titelblatts vorangestellt war und damit belegte, daß die eigentliche Struktur des Texts eine systematische und nicht eine historisch-chronologische ist.

Perfektioniert wurde dieses System dann tatsächlich im Zeitalter der Aufklärung von den Enzyklopädisten. Die „Encyclopédie“, die Denis Diderot und Jean le Rond d’Alambert zwischen 1751 und 1776 in 35 Bänden herausgaben, wollte nicht nur die Gedanken ihrer Zeit zusammenfassen, sondern selbst auf die Zeitläufte Einfluß nehmen. Unter den Mitarbeitern der „Encyclopédie“ waren die großen Geister ihrer Zeit, neben den Herausgebern Voltaire, Montesquieu und Rousseau. Dabei bedienten sich Diderot und d’Alambert des gleichen Tricks wie Schedel und benutzten die konservativen Ansichten ihrer Zeitgenossen als Folie, um desto derber dreinzuschlagen. So sind alle Artikel der Enzyklopädie, die sich mit Klerus und Dogmatik beschäftigen, ausgesprochen orthodox (und machten damit der Zensur die Arbeit schwer). Die Tücke steckt im Detail, und das heißt bei der Enzyklopädie als Hypertext: in den Querverweisen. So enthält der Artikel Eucharestie im dritten Band eine mustergültige Abhandlung über die christliche Kommunion, am Ende aber den Hinweis: „Siehe Menschenfresser“.

Diderots Enzyklopädie ist, bei allen Macken, die schon Diderot selbst so schmerzten, daß er später die Lust an dem Mammutprojekt verlor, einer der Grundtexte des europäischen Denkens. Das vollständige Fehlen einer halbwegs ordentlichen deutschsprachigen Ausgabe darum ein Skandalon. Was jetzt aber als Sonderband der „Anderen Bibliothek“ von Hans Magnus Enzensberger vorgelegt wird, betont den Skandal eher als ihn zu beseitigen. Anders als die Verlagsankündigung großmäulig behauptet, liegt damit nämlich keineswegs eine „wissenschaftlichen Ansprüchen“ Genüge tuende Ausgabe vor. Nirgends wird erklärt, nach welchen Kriterien eine Textauswahl stattfand, von Text- oder Quellenkritik gar nicht erst zu sprechen. Dafür „würzen“ die Herausgeber die historischen Texte als „besonderen Clou“ mit Dreingaben angeblich „zeitgenössischer wilder Denker“, unter denen sich mit Jutta Limbach und Daniel Cohn-Bendit das mittlerweile stinknormale bundesrepublikanische Establishment befindet. Zwerge auf den Schultern von Riesen wirken aber bekanntlich besonders klein … Damit nicht genug, sind noch Textsplitter der gefälligen Art von Lichtenberg über Georg Kreisler bis Robert Gernhard wahllos in dem Buch verteilt, so als wollten die Herausgeber um jeden Preis (der mit 77 Euro schon ziemlich happig ist) das verkaufen, was sie für „geistreich“ halten, und als ließen sie jedes Vertrauen in die Qualität der ursprünglichen Texte vermissen.

Dieser Artikel erschien nur in grob verkürzter Form in der taz, hier darum die von mir favorisierte Langfassung.

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